Deutschland wäre demnach mit Einkommenseinbußen von 9,5 Milliarden nach Großbritannien in absoluten Zahlen am stärksten betroffen. Zwischen den unterschiedlichen Regionen Deutschlands ergeben sich außerdem erheblich Unterschiede.
Der Brexit wird kommen – und mit ihm ökonomische Schäden in Höhe von bis zu 100 Milliarden Euro in der gesamten EU. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die den ökonomischen Schaden unterschiedlicher Brexit-Szenarien (harter und weicher Austritt) auf die deutsche, britische und europäische Wirtschaft untersucht hat. Dabei variiert die ökonomische Betroffenheit nicht nur zwischen den europäischen Staaten, sondern ebenso zwischen verschiedenen Regionen innerhalb Deutschlands.
Methodik: Wie wurde vorgegangen?
Grundlage der Erhebung waren sowohl Daten der Handelsströme zwischen Staaten der EU untereinander als auch Handelsströme zwischen EU-Ländern und anderen OECD- und BRICS-Staaten. Bei der Analyse wurde das makro-ökonomische Gravitationsmodell angewandt, in welchem Marktgröße und Entfernung von Handelspartnern bei der Simulation von Handelsströmen berücksichtigt werden. Bezogen wurden die Daten unter anderem aus der UN-COMTRADE-Datenbank und der Eurostat-Datenbank. Um die negativen Auswirkungen eines Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union näherungsweise zu bestimmen, erfolgte zu Beginn eine Schätzung der aktuellen positiven Auswirkungen des EU-Binnenmarktes auf die europäische Wirtschaftsleistung. Demnach senkt der EU-Binnenmarkt Handelskosten, erhöht die Produktivität und begünstigt Einkommenssteigerung. Von diesem „positiven“ Wert wurden dann die geschätzten Effekte eines harten sowie eines schwachen Brexits abgezogen.
Nationale Einkommensverluste
Auch wenn der Brexit für beide Seiten – Großbritannien und die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten – ernstzunehmende Konsequenzen hat, trifft er das Vereinigte Königreich der Studie zufolge am schwersten. Demnach ist bei einem harten Brexit mit Einkommensverlusten von jährlich 57 Milliarden Euro zu rechnen, was 2,4% des BIPs und 873 Euro pro Einwohner entspricht. Dieser ökonomische Schaden lässt sich hauptsächlich anhand zweier Faktoren erklären:
- Handelszölle: Durch wahrscheinlich neu entstehende Zölle und Einfuhrkontrollen verteuern sich Waren und Dienstleistungen.
- Weniger Dynamik und Wettbewerb: Durch sinkende europäische Konkurrenz könnten sich Unternehmen mit geringerer Produktivität leichter im Markt halten – das Produktivitätswachstum ginge zurück. Dies würde sich auch auf den Verbraucher in Form von Preisaufschlägen aufgrund der geringeren Wettbewerbsintensität auswirken.
Auf Seiten der verbleibenden EU-Staaten sind die Auswirkungen des Brexits mit Blick auf absolute Zahlen für Deutschland am stärksten. Mit einem jährlichen Gesamtverlust von 9,5 Milliarden Euro liegt Deutschland noch vor Frankreich und Italien. Setzt man den ökonomischen Schaden aber in Bezug zu der wirtschaftlichen Leistung, so zeigt sich, dass Deutschland mit relativen Verlusten von 0,3% ihres BIPs im Vergleich zu anderen Staaten weniger stark betroffen ist. So muss Irland mit Einkommensverlusten von 3,1 Milliarden rechnen, die über 1% ihres BIPs entsprechen. Insgesamt ergeben sich im Falle eines harten Brexits bei den verbleibenden EU-Ländern Einkommensverluste von 40 Milliarden (vgl. GBR: 57 Mrd.) Dieses Verhältnis der Betroffenheit bleibe auch bei einem schwachen Brexit bestehen, betrüge aber nur rund 22 Milliarden in den EU-Ländern und 32 Milliarden im Vereinigten Königreich.
Regionale Unterschiede in Deutschland
Nicht nur zwischen den europäischen Mitgliedstaaten, sondern auch zwischen den deutschen Bundesländern variiert die Betroffenheit durch den Brexit. So wäre Nordrhein-Westfalen sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen mit am stärksten betroffen. Die Studie prognostiziert im Falle eines harten Brexits Einkommensverluste von 650 und 560 Millionen in Köln und Düsseldorf und einen pro Kopf Verlust von 126 Euro. Ebenfalls stark betroffen sind demnach Oberbayern und Stuttgart, wo besonders die Automobilindustrie Exporteinbußen hinnehmen müsste.
Fazit und Befragung deutscher Unternehmen
Insgesamt sind erhebliche ökonomische Schäden mit einem errechneten EU-weiten Einkommensverlust von fast 200 Euro pro Einwohner (pro Jahr) zu erwarten. Das spiegelt sich auch in der Sonderauswertung der IHK Unternehmensbefragung Going international 2019 wieder, in der 1.500 deutsche Unternehmen Angaben zur ihren geschäftlichen Beziehungen nach Großbritannien machten. Demnach berichtet bereits jetzt nur jedes 5. Unternehmen von guten Geschäften im Vereinigten Königreich und 70% erwarten eine Verschlechterung des Geschäfts im kommenden Jahr. Mit Blick in die Zukunft sind für über 50% der Befragten die Auswirkungen weiterhin unklar und sie sorgen sich um Mehrbelastungen in Milliardenhöhen durch zusätzliche Zollbürokratie und neue rechtliche Bestimmungen. Soweit möglich haben betroffene Unternehmen bereits einige Maßnahmen ergriffen. Unter anderem führten sie Gespräche mit Kunden und Lieferanten, absolvierten Schulungen zum Zollrecht und prüften Wertschöpfungsketten.
Immerhin, so das Fazit der Bertelsmann Studie, könne ein weicher Brexit mit einem umfassenden Handelsabkommen die ökonomischen Schäden eines Brexits nahezu halbieren und dadurch einen großen Teil des Lebensstandards erhalten. Eine ausführliche Lektüre des Berichts Estimating the impact of Brexit on European countries and regions der Bertelsmann Stiftung lohnt sich. Wie der Brexit bereits jetzt die Forschungsförderung durch die EU in Großbritannien einbrechen ließ, erfahren Sie in dem aktuellen Factsheet der Royal Society. Lösungsansätze, um internationale Kooperationen auszuweiten und bestehende Partnerschaften zu stärken, formuliert die Studie Changes and Choices von den Professoren Adrian Smith und Graeme Reid.